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Die unsichtbare Gewalt: Jedes dritte Kind in Kirgistan übernimmt die Rolle eines Erwachsenen

Die am weitesten verbreitete Form der Gewalt gegen Kinder in Kirgistan ist die Vernachlässigung, die als Mangel an angemessener Erziehung, an Fürsorge und an Aufmerksamkeit der Eltern gegenüber ihren Kindern auftritt.

Kinder scheinen in ihrem Zuhause nicht immer Kind sein zu dürfen (Symbolbild). Foto: Wikimedia Commons

Die am weitesten verbreitete Form der Gewalt gegen Kinder in Kirgistan ist die Vernachlässigung, die als Mangel an angemessener Erziehung, an Fürsorge und an Aufmerksamkeit der Eltern gegenüber ihren Kindern auftritt.

In Kirgistan sind laut offiziellen Angaben 30 Prozent der Kinder mit der Betreuung jüngerer Kinder sowie älterer oder kranker Familienmitglieder beschäftigt.

So widmen Erwachsene in Kirgistan nach Angaben des Nationalen Statistischen Komitees der Erziehung ihrer Kinder ganze 38 Minuten pro Tag – das sind nicht mehr als ein bis zwei Prozent ihrer Zeit. Dabei gibt es geschlechtsbedingte Unterschiede: Während die Mütter laut Statistik im Schnitt 40 Minuten täglich aufwenden, sind es bei den Vätern 17 Minuten.

Zugleich hat die Bevölkerung täglich vier Stunden Freizeit für Erholung und Vergnügen übrig. Die wichtigste Freizeitbeschäftigung ist im ganzen Land das Fernsehen.

Laut der Untersuchung des Nationalen Statistikkomitees verwenden zwölfjährige Mädchen im Schnitt mehr Zeit auf die Kindererziehung als Erwachsene, nämlich 47 Minuten am Tag. Bei Jungen im gleichen Alter ist es zwar etwas weniger, aber sogar deren Zeitaufwand ist höher als der erwachsener Männer.

Dies liegt an mehr bestehenden sozialen Normen und der Priorität, Mädchen im Geiste eines verantwortungsvollen Familienmitglieds zu erziehen, welches sich in Zukunft um die anderen Familienmitglieder kümmert und die Häuslichkeit bewahrt.

Unbezahlte häusliche Kinderarbeit

Unbezahlte Kinderarbeit in Haushalten ist ebenfalls ein Teil der Zuständigkeiten, welche Erwachsene auf den Schultern ihrer Kinder abladen. Mehr als 62 Prozent der Kinder verrichten Hausarbeit im eigenen Haushalt – so genannte „unbezahlte Hausarbeit“. Am meisten an der Hausarbeit beteiligt sind Kinder zwischen 14 und 18 Jahren. Von ihnen werden die Mädchen mit 71,3 Prozent deutlich häufiger zur Hausarbeit herangezogen als die Jungen mit 55,4 Prozent.

Im Jahr 2022 fehlten 17 Prozent der Kinder, die nicht zur Schule kamen, aus familiären Gründen.

Steigende Suizidrate und mehr Straftaten gegen Kinder

In den ersten vier Monaten des Jahres 2024 begingen in Kirgistan 36 Kinder Suizid. Damit ist die Zahl der von Kindern begangenen Selbstmorde im Vergleich zum Vorjahr um 20 Prozent gestiegen. Darüber hinaus erhöhte sich die Anzahl der Straftaten gegenüber Kindern um 28,6 Prozent.

Das hohe Maß an Migration, intern wie extern, beeinflusste die Herausbildung des Phänomens der „Migrantenkinder“, die am häufigsten Opfer sexueller Gewalt, früher Ehen und Schwangerschaften sowie von Menschenhandel werden. Elf Prozent der Kinder bis 17 Jahren haben einen Elternteil mit Migrationshintergrund. Zugleich sind etwa 80 Prozent der Straßenkinder Kinder von Binnenmigranten.

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Im Jahr 2023 wurden insgesamt 88.000 Migrantenkinder von ihren nahen Angehörigen zurückgelassen. Wandern die Eltern ab, bleiben die Kinder häufig bei ihren Verwandten und in vielen Fällen bei ihren Großeltern zurück, denen es manchmal sehr schwerfällt, die Kinder aufzuziehen.

Gewalt gegen Kinder durch Parentifizierung

Kinder sind aber auch in Voll- und Alleinerziehenden-Familien Vernachlässigung ausgesetzt und können ebenso unter mangelnder Aufmerksamkeit und elterlicher Fürsorge leiden. Dies lässt sich nicht nur auf die ökonomische Stellung und den sozialen Status zurückführen, sondern auch auf die Zunahme des Phänomens der „unverantwortlichen Elternschaft“.

Fachleute betonen, dass die Übertragung der elterlichen Verantwortung von den Erwachsenen auf die Kinder, die als „Parentifizierung“ (vom englischen Wort „parents“, [dt. Eltern]) bezeichnet wird, eine Form emotionaler Gewalt gegenüber Kindern ist. Die Parentifizierung ist ein Prozess der Rollenumkehr, bei welchem die Kinder Aufgaben übernehmen, die eigentlich Erwachsenen obliegen – wie die Betreuung ihrer Brüder und Schwestern, der Eltern und anderer Familienmitglieder. Dies ist in erster Linie ein Prozess des frühen Erwachsenwerdens eines Kindes, wenn Erwachsene das Kind als vollwertiges erwachsenes Familienmitglied behandeln, welches die gleichen Pflichten wie diese hat.

Für ein Kind hat der Prozess der Parentifizierung einen dauerhaften negativen Einfluss. Er kann zu den unterschiedlichsten Folgen im Erwachsenenalter führen: von der Abneigung, eine Familie zu gründen und eigene Kinder zu haben bis zur Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit. Dazu gehören Depressionen, Scham- oder Schuldgefühle, das Unvermögen, in Zukunft gesunde Beziehungen aufzubauen, wie auch die Unfähigkeit, seine Emotionen und Gefühle offen auszudrücken. Der Grund dafür ist, dass die Eltern unrealistisch hohe Erwartungen an ihre Kinder haben. Folglich hat das Kind ein geringes Selbstwertgefühl und schämt sich dafür, wenn es diese Erwartungen nicht erfüllt. Sehr oft kommt es auch vor, dass Erwachsene ein Kind körperlich bestrafen oder heftig ausschimpfen, wenn es seiner erwachsenen Verantwortung, für alle Familienmitglieder zu sorgen, nicht ordentlich nachkommt“, sagt Meerim Osmonalijewa, die Direktorin der gemeinnützigen Stiftung „Oase“.

Die Redaktion von CABAR Asia

Aus dem Russischen von Dörte Drangmeister

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