Es ist eine der dunkelsten Seiten der modernen Geschichte des Landes: Ethnische Massenkonflikte forderten Hunderte von Menschenleben, zerstörten Tausende von Häusern und führten zu einer massenhaften Flucht. Anlässlich des 15. Jahrestages erinnert Fergana News an den blutroten Juni.
In der Nacht vom 10. auf den 11. Juni 2010 kam es in Osch zu Zusammenstößen zwischen der kirgisischen und der usbekischen Bevölkerung. Bald griff die Gewalt auf das benachbarte Dschalal-Abad über. Den Behörden gelang es nicht, die Lage schnell unter Kontrolle zu bringen. Gerüchte und Provokationen, darunter Berichte über eine Vergewaltigung in einem Frauenwohnheim, verstärkten die Aggression. Bewaffnete Gruppen griffen usbekische Viertel an, und es kam zu massenhaften Brandstiftungen, Plünderungen und Morden.
Der Konflikt entfaltete sich vor dem Hintergrund einer tiefen politischen Krise im Land. Nach dem Sturz von Präsident Kurmanbek Bakijew am 7. April 2010 ging die Macht an die Übergangsregierung unter Rosa Otunbajewa über, die kaum Kontrolle über den Süden des Landes hatte. Die Spannungen in der Region wuchsen, angeheizt durch einen Kampf zwischen Anhänger:innen des vorherigen Regimes und den neuen Behörden sowie durch den Aktivismus usbekischer Politiker:innen, die eine größere politische Rolle für ihre Gemeinschaft anstrebten.
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Die Lage verschärfte sich, nachdem eine Reihe von Vorfällen – darunter die Besetzung von Stadtverwaltungen durch Bakijew-Anhänger:innen, das Niederbrennen von Wohnhäusern und Universitäten sowie die Ermordung des Gangsterbosses Aibek Mirsidikow – eine Atmosphäre des Misstrauens, der Angst und der Gewalt geschaffen hatten.
Als Reaktion auf die Eskalation der Lage verhängte die Übergangsregierung den Ausnahmezustand und eine Ausgangssperre. Die Unruhen gingen jedoch weiter. Zehntausende Menschen, hauptsächlich Usbek:innen, mussten ihre Häuser verlassen. Bereits am 11. Juni öffnete Usbekistan die Grenze und nahm über 110.000 Geflüchtete auf, hauptsächlich Frauen und Kinder, für die Lager eingerichtet wurden.
Am 12. Juni erreichte der Konflikt in Südkirgistan seinen Höhepunkt: Usbek:innen begannen, zum Schutz Barrikaden zu bauen, und die Welle der Gewalt griff auf Dschalal-Abad über. Erst am 15. Juni gelang es den Behörden, die Lage unter Kontrolle zu bringen. In beiden Städten begannen Verhandlungen zwischen den Anführern der kirgisischen und usbekischen Gemeinschaft.
Abweichende Opferzahlen
Die Angaben zur Zahl der Opfer des Konflikts variieren. Offiziell meldeten die Behörden zwischen 414 und 446 Todesopfer, einer internationalen Kommission zufolge starben rund 470 Menschen, davon 74 Prozent ethnische Usbek:innen. Mehr als 1.900 Menschen wurden verletzt. Die usbekischen Behörden berichteten von 2.800 Verletzten unter den Geflüchteten. Menschenrechtler:innen sprechen von mehr als 1.700 zerstörten und niedergebrannten Häusern.
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Als vereinsgetragene, unabhängige Plattform lebt Novastan vom Enthusiasmus seiner ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen – und von eurer Unterstützung!Nach Angaben des UN-Satellitenzentrums UNOSAT wurden rund 3.000 Gebäude beschädigt. Der materielle Schaden wird nach offiziellen Angaben auf 4 Milliarden Som (195,6 Millionen US-Dollar zum Wechselkurs von Juni 2010) und nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen auf 9 Milliarden Som (87 Millionen US-Dollar) geschätzt. Die Behörden eröffneten mehr als 5.000 Strafverfahren. Doch nur etwa 300 Menschen, die meisten von ihnen Usbek:innen, wurden tatsächlich zu Gefängnisstrafen verurteilt.
Nach den Ereignissen verließen viele ethnische Usbek:innen Kirgistan, usbekischsprachige Schulen wurden geschlossen. Hunderte Menschen, darunter der bekannte Menschenrechtsaktivist Asimdschon Askarow, wurden wegen der Organisation von Unruhen und anderer Verbrechen verurteilt. Internationale Organisationen und Menschenrechtler:innen gehen davon aus, dass die Anklagen gegen viele von ihnen fingiert und Geständnisse unter Folter erpresst wurden. Askarow starb 2020 in Haft, obwohl die UN seine Freilassung gefordert hatte.
Schleppende Aufarbeitung
2011 kam eine internationale unabhängige Kommission unter der Leitung von Kimmo Kiljunen, an den sich Rosa Otunbajewa mit der Bitte um Unterstützung gewandt hatte, zu dem Schluss, dass die Tragödie hätte verhindert werden können. Die provisorische Regierung habe die ethnischen Spannungen unterschätzt und den Schutz der Bevölkerung nicht gewährleistet. Die Kommission stufte die Angriffe auf usbekische Viertel als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein, erkannte die Ereignisse jedoch nicht als Völkermord oder Kriegsverbrechen an.
Die kirgisischen Behörden lehnten die Ergebnisse der Kommission ab und erklärten ihren Leiter zur unerwünschten Person. Internationale Partner, darunter die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), griffen nicht ein und erklärten, es handele sich um eine interne Angelegenheit.
Im selben Jahr führte eine nationale Kommission ihre eigene Untersuchung durch. Sie kam zu dem Schluss, die Schuldigen des Konflikts seien „separatistische Kräfte“ unter Führung von Kadyrdschon Batyrow, einem Anführer der usbekischen Gemeinschaft in Kirgistan und Anhänger des flüchtigen Präsidenten Bakijew, sowie „externe Kräfte, die an einer Destabilisierung der Lage interessiert waren“.
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Im Oktober 2011 verurteilte das Stadtgericht Dschalal-Abad Kadyrdschon Batyrow und Inom Abdurasulow, einen weiteren Anführer der usbekischen Gemeinschaft, in Abwesenheit zu lebenslanger Haft. Sie wurden der Organisation von Massenunruhen und der Teilnahme an separatistischen Aktivitäten für schuldig befunden. Vier weitere Angeklagte erhielten Haftstrafen zwischen sechs und zwanzig Jahren. Beide verließen Kirgistan nach den Ausschreitungen und wurden international gesucht.
Im Oktober 2014 verurteilte das Stadtgericht Osch Batyrow und Abdurasulow in Abwesenheit zu lebenslanger Haft und bestätigte damit ihre Rolle als Organisatoren der Unruhen. Die ehemalige Vorsitzende des regionalen Zweigs des Frauenkongresses Kirgistans in Osch, Karamat Abdullajewa, wurde zu 16 Jahren Haft verurteilt. Im Dezember 2018 wurde berichtet, dass Kadyrdschon Batyrow im Alter von 62 Jahren in Odessa verstorben sei.
Die Ermittlungen zu den Unruhen wurden im April 2021 auf Anordnung des amtierenden Präsidenten Kirgistans, Sadyr Dschaparow, wieder aufgenommen. Gegen fünf ehemalige Mitglieder der Übergangsregierung wurde Anklage wegen Amtsmissbrauchs erhoben, darunter gegen den ehemaligen Präsidenten Almasbek Atambajew, der 2010 stellvertretender Premierminister im Übergangskabinett war. Auch gegen den damaligen Verteidigungsminister Ismail Isakow, Innenminister Bakytbek Alymbekow, den ehemaligen Gouverneur des Gebiets Dschalal-Abad, Bektur Asanow, und den ehemaligen Leiter des Staatlichen Komitees für Nationale Sicherheit Kirgistans, Kengeschbek Duischeböjew, wurde Anklage wegen Amtsmissbrauchs erhoben. Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen.
Keine Ansprache zum Jahrestag
Es sei darauf hingewiesen, dass Präsident Sadyr Dschaparow im Jahr 2025 auf die traditionelle Ansprache an das Volk zum Jahrestag der Unruhen verzichtete. Zuvor hatte er, wie seine Vorgänger, wiederholt über die Tragödie gesprochen und zur Einheit aufgerufen sowie dazu, von bösen Absichten abzusehen, die zu interethnischen Konflikten führen könnten.
Die Tragödie hinterließ tiefe Spuren in der kirgisischen Gesellschaft und offenbarte ungelöste interethnische und politische Probleme sowie die Verletzlichkeit staatlicher Institutionen angesichts der Krise. Fragen der Gerechtigkeit, der Rehabilitierung der Opfer und der Suche nach Wegen zu dauerhaftem Frieden sind für das Land bis heute aktuell.
Fergana News
Aus dem Russischen von Robin Roth
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